Themen: Achtsamkeit | Emotionsregulierung | Persönlichkeitsentwicklung | Trauma | Vergebung | Versöhnung | Vertrauen
Verfasser: Christiane Hintzen
Worum es beim Vergeben (wirklich) geht?
Vergeben beginnt damit, dass ich mir im Klaren darüber bin, dass es sich dabei um kein Gefühl handelt, sondern um eine Entscheidung. D.h. ich entscheide mich damit frei für meine Zukunft. Denn Vergeben ist erst dann möglich, wenn es dem Opfer, also dem Verletzten, deutlich geworden ist, dass es sich dabei um einen Schritt zur eigenen Befreiung handelt.
Beim Vergeben geht es auch nicht darum in einen direkten Kontakt zum Täter, also dem Verletzer, zu gehen. Vergeben ist vielmehr ein innerer Prozess.
Die Wut, der Ärger, die Enttäuschung etc., die durch die Verletzung ausgelöst wurden, haben Einfluss auf die eigene Zukunft. Das muss sich der Verletzte bewusst machen. D.h. wenn ich, der Verletzte, die Entscheidung gefällt habe zu vergeben, stärke ich mich und damit meine Zukunft. Der Verletzer muss überhaupt nicht wissen, dass ich ihm vergeben habe. Zumindest erst einmal.
Um aufrichtig und „sauber“ vergeben zu wollen, ist es wichtig, sich der auslösenden Situation noch einmal zu stellen. Denn durch den Ärger oder die Wut ist die Verletzung überlagert. Konfrontieren Sie sich also selber mit der wahren Größe der eigenen Verletzung. „War es wirklich so schlimm?“ Denn möglicherweise reagiere ich als Verletzter stärker als es zur Situation passen würde. Somit kann es gut sein, dass in meiner Vergangenheit die Antwort darauf zu finden ist. Vielleicht hat die Verletzung auch bei mir ein unverarbeitetes Traumata berührt. Wenn ich diese Folgen nicht in Betracht ziehe, belaste ich mich damit weiter. Ich werde mich nicht wirklich frei und entspannt fühlen. Ich muss mir im Klaren sein, dass Vergeben kein Ersatz ist für eine stimmige Trauma-Bearbeitung. Des Weiteren gilt es zu schauen, welche ethischen und moralischen Erwartungen ich an den Verletzer habe. Sollte die Verletzung familiär entstanden sein, kann es durch die enge Beziehung zum Verletzer eine starke Diskrepanz geben.
Wenn es um Verletzungen geht, die in Partnerschaft entstanden sind, werden diese oftmals bagatellisiert, bzw. nicht sorgfältig von beiden Seiten gelöst. Zu diesem Thema gibt es einen Artikel von mir „Heilung bei Verletzungen in der Liebe“. Er liegt in der Praxis aus. Auf Wunsch sende ich ihn auch gerne zu.
Natürlich bedeutet es nicht, dass es okay ist, was der Verletzer getan oder eben nicht getan hat. Es ist etwas geschehen, was aus Sicht des Verletzten nicht in Ordnung ist. Oft hat der Verletzte den Anspruch an den Verletzer, dass dieser sich verändert. Manchmal ist das auch denkbar, doch das würde bedeuten, dass ich als Verletzter eine Bedingung an den Verletzer habe. Mit dieser Erwartungshaltung stehe ich in der Position der Ohnmacht.
Bei Vergebung gehe ich in meine Kraft. Aus der Ohnmacht entscheide ich mich in die Position der Ermächtigung zu gehen.
Natürlich kann die Folge dieser Verletzung sein, dass das Vertrauensverhältnis zum Verletzer gebrochen ist. Dies schließt jedoch nicht aus, dass ich dem Verletzer vergebe.
Vergebung ist ein Prozess der vorsichtig und bedacht gegangen werden will. Es bedarf deutlich mehr Achtsamkeit und klares Bewusstsein zu vergeben, als „einfach“ nachtragend und verärgert oder wütend zu bleiben. Außerdem bindet sich die Wut an den Verletzer. Somit geben Sie ihm nach wie vor Macht. Bewusst oder unbewusst. Wollen Sie das?
Weiterhin gehört zum wahrhaftigen Vergeben der Schuhwechsel
Schlüpfen Sie in die Schuhe des Verletzers. Dadurch wechseln Sie nicht nur die Perspektive, sondern Sie nehmen vor allem Aspekte des Verletzers wahr. Das kann zu einem vertieften Begreifen an der Situation führen. Weiterhin führt es zu einem Verstehen. Eventuell erkennen Sie dadurch, dass es sich nicht um Vergebung handelt, sondern vielmehr um Akzeptanz. Wenn Sie nämlich erkennen, dass der Verletzer mit einem schädigenden Verhalten umgeht und die Folgen, Sie zu verletzen, billigend in Kauf nimmt, heißt das vielmehr, es gilt in den Prozess der Akzeptanz zu gehen..
Ein indianisches Sprichwort sagt:
„Ich kenne eine Person erst dann, wenn ich 30 Tage in ihren Mokassins gelaufen bin.“
Gelingt es Ihnen, die Sicht des Verletzers einzunehmen, kann es zu einer starken Befreiung kommen.
„Es ist meine Geschichte, aber Vergangenheit.
Ich entscheide, dass es nicht mehr meine Gegenwart ist.“
Mit dieser entwickelten Haltung können Sie als verletzte Person, den Verursacher wieder ganz sehen. Aus einem Täter, einem Verletzer, wird wieder der Mensch mit seinen vielen Facetten und Aspekten. Eine davon ist sicherlich seine Bereitschaft und Fähigkeit zu verletzen.
Der Verletzte muss sich jetzt entscheiden dem Verletzer wirklich! zu vergeben zu wollen.
Es ist wichtig, dass Sie den Verursacher nicht mehr als Täter zu definieren.
Nun endet der Prozess in der Vergebung.
Vergeben heißt auch Loslassen
Es gibt eine passende Metapher dazu, die ich gelesen habe und hier aufzeigen möchte:
Stellen Sie sich vor, Ihr Leben ist ein Fluss. Sie selber strahlen mit drei Scheinwerfern auf Ihren Fluss des Lebens, um alles erkennen zu können und auch bei Bedarf ausweichen zu können (z.B. wenn ein Krokodil kommt). Wenn Sie nun jedoch einen Scheinwerfer auf den Verletzer, der am Ufer steht, werfen, wird Ihr Lebensfluss zu einem Teil dunkel. Entscheiden Sie sich für die Vergebung, geht die Aufmerksamkeit vom Verletzer weg und Sie haben wieder Ihren Scheinwerfer für Ihren Lebensfluss.
Fazit: Sie haben die Aufmerksamkeit auf den Verletzer losgelassen und können wieder frei auf Ihren Lebensfluss schauen.
Will ich wieder in den Kontakt gehen?
Bevor eine reale Kontaktaufnahme zum Verursacher erfolgt, ist es wichtig, sich vorab klar zu machen, was ich will.
Denn Versöhnung ist nicht das Ziel von Vergebung!
Versöhnung ist ein weiterer Prozess. Der Verletzte kann sich nach der Vergebung gesondert entscheiden, falls die Gegebenheiten mit dem Verursacher nicht stimmig sind. Es ist wichtig, die eigene Sicherheit zu gewährleisten und die möglichen Risiken mit dem Verursacher einzuschätzen.
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