Themen: Aufklärung | Bewusstsein | Beziehung | Elternschaft | Emotionale Bindung | Kinderschutz | Missbrauch | Tabuthemen | Trauma
Verfasser: Eline Duarte Demirci

Hinschauen. Verstehen. Handeln.
Triggerwarnung
Dieser Artikel behandelt das Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen, inklusive konkreter Beschreibungen möglicher Dynamiken und Folgen.
Für Menschen mit eigenen traumatischen Erfahrungen kann der Inhalt belastend oder retraumatisierend wirken.
Bitte achte gut auf dich. Wenn du merkst, dass dich der Text belastet, gönn dir eine Pause oder sprich mit jemandem, dem du vertraust.
Meine persönliche Motivation
Was mich dazu bewegt hat, diesen Artikel zu schreiben, war ein konkreter Fall sexuellen Missbrauchs, von dem ich kürzlich gelesen habe. Ein Fall aus Brasilien, meinem Herkunftsland, in dem ich auch meine pädagogische Ausbildung abgeschlossen habe. Ein vierjähriges Kind, mitten in seiner Entwicklungs- und Findungsphase wurde von einem vertrauten Erwachsenen missbraucht. Eine Tat, die nicht aus dem Nichts kam. Kein Schicksal, kein „Einzelfall“, sondern das bewusste Handeln eines Täters.
Was mich besonders erschüttert hat, war der Gedanke: Ein Kind hält das, was ihm angetan wird, womöglich für Liebe.
Diese Vorstellung und die Erkenntnis, wie oft solche Realitäten im Verborgenen bleiben, hat mich tief bewegt. Als dreifache Mutter, als Beraterin, als Frau. Und als Mensch, der nicht länger wegsehen will.
Was sexueller Missbrauch ist – eine sachliche Einordnung
Sexueller Missbrauch an Kindern beschreibt Handlungen, bei denen ein Erwachsener, älteres Kind oder älterer Jugendlicher ein Kind zur Befriedigung eigener sexueller Bedürfnisse benutzt, unter Ausnutzung von Macht, Vertrauen oder Abhängigkeit.
Wesentlich dabei ist: Das Kind kann nicht einwilligen. Weder rechtlich noch emotional. Es versteht nicht, was geschieht, und kann sich meist nicht wehren – vor allem dann nicht, wenn die übergriffige Person aus dem nahen Umfeld stammt.
Missbrauch beginnt nicht erst bei körperlicher Gewalt. Er kann viele Formen annehmen:
- unangemessene Berührungen
- sexuelle Handlungen am oder mit dem Kind
- das Zeigen pornografischer Inhalte
- das Erzwingen von Schweigen oder „Geheimnissen“
- sexualisierte Sprache oder entwürdigende Kommentare
In über 75 % der Fälle stammt der Täter aus dem familiären oder sozialen Umfeld des Kindes. Täter*innen wirken oft charmant, hilfsbereit, unauffällig. Das macht es für Außenstehende und auch für das Kind selbst so schwer, die Tat zu erkennen oder zu benennen.
Laut der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) berichten jedes Jahr mehrere zehntausend Kinder in Deutschland von sexuellen Übergriffen. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher.
Die langfristigen Folgen können tiefgreifend sein: Gefühle von Schuld, Scham, Angst, Identitätsverlust, Beziehungsprobleme, psychosomatische Beschwerden bis hin zu schweren psychischen Erkrankungen.
,,Besonders verletzlich: Kinder in sensiblen Entwicklungsphasen,,
Kinder im Alter zwischen 0 und 6 Jahren befinden sich in einer hochsensiblen Phase ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung. In dieser Zeit entstehen Bindungssicherheit, Urvertrauen, Körperbewusstsein und erste Formen von Autonomie. Sie sind vollständig auf schützende, verlässliche Bezugspersonen angewiesen – emotional, sprachlich und physisch.
Wird in dieser Phase ein sexueller Übergriff erlebt, trifft er das Kind in seinem innersten Selbst: Das Vertrauen in die eigenen Empfindungen, die Wahrnehmung von Grenzen und das Gefühl von Sicherheit im eigenen Körper können tief erschüttert werden, oft mit lebenslangen Folgen. Viele Betroffene berichten später nicht von klaren Erinnerungen, sondern von einem bruchstückhaften inneren Erleben, diffusen Ängsten oder einem tiefen, schwer fassbaren Gefühl von „Nicht-Ich“.
Warum Aufklärung so wichtig ist – Schutz beginnt mit Wissen
Kinder stark machen heißt, sie zu informieren. Aufklärung, altersgerecht und sensibel vermittelt, ist ein zentraler Pfeiler der Prävention, ebenso wie eine bewusste, grenzachtende Erziehung.
Viele Eltern und Fachkräfte fühlen sich jedoch unsicher, wenn es um Sexualpädagogik oder das Ansprechen sensibler Themen geht. Scham, Unwissenheit oder kulturelle Tabus blockieren offene Gespräche.
In meiner Arbeit als psychologische Beraterin begegnen mir immer wieder Eltern, die das Gefühl haben, keine Sprache für dieses Thema zu finden, genau da möchte ich ansetzen.
Denn Schweigen schützt nicht. Im Gegenteil: Es schafft den Raum, in dem Missbrauch gedeihen kann.
Daher braucht es Wissen, aber auch den Mut, es auszusprechen. Und eine klare gesellschaftliche Haltung: Kinderschutz geht uns alle an.
Gesellschaftliche Verantwortung und der „Blinde Fleck“
Sexueller Missbrauch ist kein individuelles Problem, sondern ein strukturelles. Solange wir ihn nur als „Einzelfälle“ wahrnehmen, bleibt er unsichtbar.
Der dokumentarische Film „Blinder Fleck“ von Liz Wieskerstrauch macht genau diesen Mechanismus sichtbar: das institutionalisierte Schweigen, das Versagen von Schutzsystemen und die fehlende Wahrnehmung für leise Signale.
Er richtet sich besonders an Menschen, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben: Fachkräfte aus der Justiz, Pflege, Pädagogik, Jugendhilfe oder Therapie.
Er zeigt:
Durch Wissen und Bewusstsein entsteht Handlungskompetenz.
Der Film ist kein leichtes Werk, aber ein notwendiges. Er fordert uns heraus, die eigene Haltung zu hinterfragen. Und erinnert uns daran, dass echter Kinderschutz mit klaren Strukturen und mutigem Hinschauen beginnt.
Handlungsmöglichkeiten – Was wir tun können
Was können wir als Eltern, Fachkräfte und Gesellschaft konkret tun?
- Hinschauen, statt wegsehen.
- Bildung und Sprache fördern.
- Grenzen respektieren.
- Vertrauen stärken.
- Strukturen schaffen.
Und nicht zuletzt: Sprechen wir. Offen, ehrlich, mutig – mit unseren Kindern, in unseren Familien, in unserer Gesellschaft.
Denn nur, was ausgesprochen wird, kann auch verändert werden. Vielleicht stellen auch Sie sich nach dem Lesen die Frage: Habe ich bisher wirklich hingeschaut?
Ausblick
Dieser Artikel ist der Auftakt einer mehrteiligen Serie über sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendliche, ein Thema, das zu lange im Verborgenen lag.
Im nächsten Teil geht es um eine der zentralsten Fragen: Wie agieren Täter/innen? Wie schaffen sie Nähe, Vertrauen und letztlich Macht über das Kind?
Indem wir ihre Strategien verstehen, stärken wir nicht nur die Kinder, sondern auch alle, die sie begleiten.Vielleicht stellen auch Sie sich nach dem Lesen die Frage:
Habe ich bisher wirklich hingeschaut, bei mir selbst, bei anderen, bei den Kindern?
Ausblick auf die nächsten Teile der Artikelreihe:
In den kommenden Teilen geht es unter anderem um Täterstrategien, kindliches Schweigen als Schutzmechanismus und darum, wie wir Kinder sprachfähig machen können ohne sie zu überfordern.
Quellen & Fachliche Grundlagen (Auswahl):
- Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM)
- WHO Definitionen zu sexualisierter Gewalt
- Deutsche Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung
- Eigene Fachfortbildung: Certificação Master Esepas – Educação Sexual, Emocional e Prevenção ao Abuso Sexual (Brasilien, 2024)
Hinweis:
Der Dokumentarfilm „Blinder Fleck“ von Liz Wieskerstrauch läuft seit seiner Premiere im April 2025 erfolgreich in ausgewählten Kinos Deutschland weit, viele Vorstellungen sind bereits ausverkauft. Aufgrund der großen Nachfrage finden immer wieder Sondervorstellungen statt, wie zuletzt in Münster.
Der Film gibt Betroffenen eine Stimme, deckt institutionelles Wegsehen auf und macht die gesellschaftliche Relevanz sexualisierter Gewalt sichtbar. Ein bewegender und notwendiger Beitrag zur Aufklärung auch für Fachkräfte, Eltern und Entscheidungsträger/innen.
Weitere Informationen und Termine:
@lizwieskerstrauch / #blinderfleckfilm / @childrensdefence / #neinlassdas
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